Das Faulheitsprinzip – Ein Gastbeitrag zu #BetterWork

05. September 2018

Nichts zu tun gilt gemeinhin als faul, dabei braucht gerade, wer vorwiegend geistig arbeitet, auch Denkpausen. Unsere wenig ausgeprägte Pausenkultur und die fehlende Wertschätzung des Nichtstuns zeigen allerdings, wie weit wir noch von einem gesunden Umgang mit diesem Thema entfernt sind. Unsere Gastautorin vom Zukunftsinstitut, Janine Seitz, hat sich gemeinsam mit Ali Mahlodji näher mit dem Faulheitsprinzip beschäftigt.


Vom Faulheitsprinzip und der Kunst des kreativen Nichtstuns

Ein Muskel wächst in der Regenerationsphasen, nicht während des Trainings.

Es ist das „Wirkenlassen“, das die schweißtreibenden Anstrengungen in Wachstum umwandelt. Was im Spitzensport seit jeher über High-Performance-Ergebnisse entscheidet, findet auch in der Gesellschaft und in Unternehmen Zuspruch: Vorbei sind die Zeiten, in denen fatalerweise angenommen wurde, dass „Work-Hard“-Parolen die Antwort auf zunehmende Anforderungen seien. Wer sich heute erfolgreich in der neuen Arbeitswelt bewegen will, muss wegkommen davon, immer härter, mehr und schneller zu arbeiten, zurück zu einem menschlichen, gesunden Maß. Dieses neue Bewusstsein für „Work Smart“ lässt 9-to-5-Jobs immer mehr zu einem unattraktiven Relikt einer auslaufenden Leistungsgesellschaft werden.

Die Mühlen der Arbeitswelt sind unfreiwillig entstanden: Wir hatten in der westlichen Welt gar keine Wahl, ob wir überhaupt Teil der Leistungsgesellschaft werden wollten, sondern nur die Wahl, welchen Platz wir darin einnehmen möchten. Und sogar dies ist abhängig von familiärer Prägung und Herkunft. Sobald wir uns entscheiden, im Spiel nicht mitzumachen, oder wenn wir nicht vollen Einsatz zeigen, stigmatisieren wir uns selbst als Minderleister, Schmarotzer und als jemanden, dessen gesellschaftliche Relevanz gering ist. Unser Selbstwertgefühl ist damit verbunden, wie sehr wir durch unsere Arbeit wirken: Wir definieren uns über den Job und unsere Leistung.

“Wer Fotos verbreitet, auf denen der Laptop neben dem Drink steht und im Hintergrund der Pool zu sehen ist, der hat es geschafft.”

Denken wir zurück an unsere Kindheit: Damals hätten wir uns niemals vorstellen können, eines Tages circa 40 Stunden pro Woche für fremde Menschen zu arbeiten und dabei nur 25 Tage frei zu bekommen – wohlgemerkt auch nur dann, wenn dies der Chef erlaubt. Nein, wir hätten uns wahrscheinlich umgedreht und beschlossen, weiter an unserer Sandburg zu bauen, nur von den Grenzen unserer Vorstellungskraft und den Ausmaßen des Sandkastens beschränkt. Der Wandel der Arbeitswelt ist in vollem Gange, und langsam, aber stetig verlieren die Vertreter der Leistungsgesellschaft an Einfluss und werden an ein menschliches Maß der Arbeit erinnert.

Hier greift das Prinzip der sozialen Ächtung: Galt früher das Brennen des Bürolichts nach 22 Uhr als Statussymbol, das Beifall, Bewunderung und beruflichen Aufstieg garantierte, müssen sich die heutigen Workaholics und Nachteulen anhören, dass sie ihren Job, ihre Tasks und ihr gesamtes Leben nicht im Griff haben. Auf Social Media sehen wir den neuen Luxus unserer Zeit: Fotos von Cocktails in einer Rooftop-Bar, während wir gleichzeitig erkennen, dass dieses Bild nicht in der Nacht oder im Urlaub entstanden ist, sondern während klassischer Arbeitszeiten. Wer Fotos verbreitet, auf denen der Laptop neben dem Drink steht und im Hintergrund der Pool zu sehen ist, der hat es geschafft. Wer am Wochenende noch im Büro sitzt, ist der soziale Versager einer Gesellschaft, in der es uns an nichts mangelt.

Nur wer faul sein kann, ist kreativ

Professionelles Faulsein will gelernt sein, denn im Leerlauf kommen uns die besten Ideen. Wie oft passiert es, dass wir genau dann die eine Idee haben, wenn wir gerade unter der Dusche stehen, gedankenlos das Shampoo im Haar aufschäumen und plötzlich die simpelste Antwort auf die komplexeste Herausforderung im abtropfenden Wasser unseres Duschvorhangs entdecken. Untersuchungen zeigen, was wir insgeheim wissen: Kreativität findet selten am Arbeitsplatz statt. Hirnforscher gehen davon aus, dass Geistesblitze durch chemische Botenstoffe ausgelöst werden. Und die Ausschüttung dieser Stoffe ist von unserer Gefühlslage und unserer Umgebung abhängig. Eine Studie der Forscherinnen Mareike Wieth und Rose Zacks kommt sogar zum Schluss, dass wir am kreativsten sind, wenn wir müde und unfokussiert sind. Die unproduktive Zeit ist häufig die kreativste Zeit. Aus diesem Grund müssen wir lernen, die Pause zu zelebrieren als das, was sie ist: eine Phase der professionellen Reflexion, der bewussten Einkehr und des Auslagerns der kognitiven Rechenleistung an das Unterbewusstsein. Die „Faulheit der Pause“ darf nicht als Stillstand verstanden werden, sondern als Aufladen des Bewusstseins, um das nächste kognitive Level der Erkenntnis zu erreichen. Ein Level, das wir trotz bestem Willen mit Anstrengung und einem „Müssen“ nicht erreichen.

Der Arbeitsalltag zeigt, dass wir oft selbst unsere größten Gegner sind. Studien belegen, dass zu wenige Pausen gemacht werden und sie aus mangelnder Achtsamkeit teilweise auch einfach vergessen werden. Ein Grund dafür, warum es selbst Apps wie Time Out gibt, die einen an das Pausemachen erinnern.

Eine Pausenkultur zu etablieren ist noch ein großes Stück Arbeit in unseren Breitengraden, wäre jedoch aus Entwicklungs- und Produktivitätssicht wünschenswert, da viele Mikro- oder Minipausen, über den Tag verteilt, die Produktivität ansteigen lassen. In anderen Ländern sind sogar kurze Nickerchen, sogenanntes Powernapping, erlaubt: In China gibt es ein Recht auf Mittagsschlaf, in vielen Ländern des Mittelmeerraumes hält sich die Tradition der Siesta. „Inemuri“, die öffentliche Form des Nickerchens, ist in Japan durchaus üblich und auch akzeptiert, nicht nur in der Pause oder in der Bahn auf dem Weg zur Arbeit, sondern sogar auch mal in einer Konferenz.

Pausen steigern Produktivität

Während noch vor wenigen Jahren Multitasking der ganze Stolz der Leistungsträger war und der Mangel an Pausen damit begründet wurde, dass man locker neben dem Schreiben von E-Mails auch essen und entspannen kann, so zeichnen Studien ein komplett konträres Bild: Das Entscheidende beim Multitasking ist die Priorisierung von Informationen und ihre Bewertung nach Relevanz. Eine Studie der Universität Stanford belegt, dass Multitasking auf Dauer nicht funktioniert, weil man die Fähigkeit zu priorisieren verliert. Der Mensch ist nicht fürs Multitasking gemacht – unser Hirn kann das einfach nicht leisten. Zu einem noch erschreckenderen Ergebnis kommt eine Untersuchung der Universität London: Multitasking führe sogar zu einem Rückgang des IQ.

Mit der zunehmenden Automatisierung und dem Wegfall von Jobs mit Vollzeitdefinition entsteht das Szenario, in dem die Menschheit ihrem größten Wunsch – nicht mehr arbeiten zu müssen und Zeit für die wesentlichen Dinge wie „Familie, Freunde, sich selbst“ zu haben – sehr nahe kommt. Dieser Wunschzustand kann als positive Alternative zu einer Welt, in der wir die Arbeitslosigkeit als Ende der Menschheit fürchten, jedoch nur aufblühen, wenn wir die Würde des Menschen von seiner Arbeitsleistung trennen und diese als Menschenrecht etablieren und akzeptieren.


Über das Zukunftsinstitut:

Das Zukunftsinstitut ist ein internationaler Think-Tank für Trend- und Zukunftsforschung. In diesem Bereich zählt es zu den einflussreichsten Forschungs- und Beratungsteams Europas. Gegründet wurde das Unternehmen 1998 in Deutschland. Gemeinsam mit Ali Mahlodji hat das Zukunftsinstituts-Team rund um Janine Seitz den “Work Report” erstellt – Mutmacher und Orientierungshilfe für die Herausforderungen und Chancen der neuen Arbeitswelt.


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Autor

Marie-Christin Bergmann ist im Bereich Content und Communications bei etventure. Ihr Herz schlägt für Nachhaltigkeit, Innovation, Inspiration und werteorientiertes Handeln.

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